Erinnerung und Urin

Erinnerung und Urin

Arno Hermer©

 

Es stimmt schon: die Generation vor mir musste noch richtig was auswendig lernen. Da fängt es schon an. Ich musste und wollte fast nie was auswendig lernen. Aus-wendig, also nicht in-wendig, nicht „par coeur“ oder „by heart“. Ich lernte auch selten par coeur, nicht die Lateinvokabeln, zu denen der besoffene „Herr Professor“ den Takt aufs Lehrerpult drosch, nicht die Songs, die ich mit „The Tropicals“ als deren Schlagzeuger sang. Bis heute, nach bald 50 Jahren, erkenne ich die Melodien oft nach zwei Tönen, kann aber von keinen drei Songs mehr als die Eröffnungszeile. Auch damals musste ich immer alles ablesen. Und bei dem Versuch, mich an die Zeit mit Alex zu erinnern, dem indonesischen Lead-Sänger, der seinen eher holländischen Akzent sorgfältig gegen jeden bayerischen Einfluss schützte, erscheint mir meine Erinnerungslandschaft wie ein großes Ruinenfeld. Ich kann hindurch schlendern, vorbei an Trümmerhaufen, aus denen unvermittelt ein Vorname herausragt, zu dem mir Gesicht, Geschichte und Nachname fehlen. Ich gehe entlang an frischen Fassaden, die detailreich und unbeschädigt wirken, bis mir plötzlich auffällt, dass hinter der Hausfront gar kein Gebäude steht. Das sind dann meine Kenntnisse der Geschichte, die bei jeder tiefer gehenden Frage nur noch ein paar rohe Balken oder ungehobelte Dachlatten als Kulissenstützen zeigen.

Vor ein paar Tagen hielt ich wieder einmal eine jener peinlichen Reden an die Welt, von denen niemand außer meiner Liebsten weiß. Sie kreiste um wahres einander Verstehen als vielleicht einzig mögliche Basis für Frieden. In diesem Zusammenhang tauchte aus den Ruinen ein Zitat auf, dass du einen Menschen erst dann verstanden hast, wenn du wie er reden, schreiben und denken kannst. Ich versuchte, den Urheber aus dem von Assoziationen und Irrtümern überwucherten Schutthaufen freizuschaufeln. Ein Franzose, dessen war ich mir sicher. Eloise? Was hat der Vorname damit zu tun? Die Erziehung des Herzens. Stimmt denn Eloise? Aber von wem ist die Education sentimentale? Ein französischer Aufklärer. Oder Romantiker? Jean-Jacques Rousseau. Ja! Von ihm stammt das Zitat, bzw. er versuchte sich darin, wie andere Schriftsteller zu schreiben, um sie wirklich verstehen zu können.

Jetzt grabe ich für diesen Text hier zerknirscht, nein: resigniert-realistisch doch mit Hilfe des Goldgräbersiebes Wikipedia in meinem Bildungs-Trümmerhaufen, lege Eloise als noch unbekannten Ursprunges zur Seite, sortiere die Erziehung des Herzens zu ihrem wahren Urheber Flaubert, widerstehe dem KI-Copiloten von Brave, der mir weiß machen will, dass es Goethe war, nur weil dieser gesagt habe: „Ein Mensch hört nur das, was er auch versteht.“

Ausgelöst war das… wovon noch mal? Ach ja, von einer meiner Reden / Predigten an die Welt, von denen meine besten – und sofort wieder vergessenen oder nur meiner Liebsten gehaltenen – im Bett oder Halbschlaf entstanden.

Diesmal war es vom verstehen Wollen in Gang gesetzt. Meinem eigenen, dann dem verstehen Wollen des Verstehens und seiner Bedingungen des Glückens. Ich war durch mein Kopf-Stadtviertel der Begriffe und Konzepte gewandert, hatte dort die „hermeneutische Sekunde“ aufgeschnappt und mich in sie verliebt. War dann geradezu erschüttert vor dem makellos erhaltenen Gebäude gestanden, das den Traum enthielt, der die einzige wirkliche Friedenslösung für Zypern, Israel, Mali, Sudan, und und und ... enthielt (jeder muss in mühsamster Kleinarbeit sich selbst erkennen und vom Dreck der irrigen Zuschreibungen an die anderen freischaufeln, dann versteht, ja erlebt er mit seiner ganzen Existenz, dass der Feind von exakt den gleichen Ängsten und Schmerzen geplagt und somit beide untrennbar miteinander verbunden sind. Pädagogische Frage: Wen bekämpfe ich dann wirklich in meinem Feind?)

Doch dann war ich den Gedankenweg mit dem Straßennamen „Straße des Verstehens“ noch einmal zurück gegangen bis zu seinem Startpunkt. Und dort wartete eine peinliche Überraschung auf mich. Ich war losgelaufen mit der Frage, warum eigentlich Männer fast immer ihre letzten Pinkel-Tröpfchen außerhalb des Urinals auf den Boden fallen lassen. Natürlich nicht deshalb, weil „er kürzer ist, als du denkst“, wie der Landgasthaus-Klospruch immer wieder behauptet. Warum aber dann? Sie haben keine Ahnung von a) dem Coriolis-Effekt / b) der Bernoulli-Gleichung / c) von der Physik der Flüssigkeiten, wie sie Venturi entwickelte. Alles nützlich, aber falsch. Sie haben keine Ahnung (also verstehen nichts!) von der molekularen Adhäsionskraft von Wasser, das mit nachlassendem Strömungsdruck um die Spitze des Glans herum fließt und daran noch einen halben bis ganzen Zentimeter an der Unterseite weiter rinnt, um mit diesem Rückwärts-Schwung im Bogen zu Boden zu fallen – außerhalb des Urinals – zwischen oder auf die Schuhe des Pinklers. Nur rechtzeitiges Abklemmen und kurz Aufstauen könnte das verhindern. Tun aber die wenigsten, bekleckern lieber die Hosenbeine.

Man startet mit Pissflecken und endet beim Weltfrieden oder wenigstens bei der Eheberatung. Wenn das keine Kometenbahn ist. Quälend daran war mir nicht die Banalität des Ausgangspunktes, sondern die viel unappetitlichere Erkenntnis, dass ich die Friedenspredigt über das Verstehen in einer Haltung wie Friedrich Merz oder Sarah Wagenknecht hielt (zum Glück mit weit weniger Reichweite als die beiden): Im Gestus der herablassenden Empörung desjenigen, der dem bösartigen oder doofen Gegenüber das Geschenk der eigenen Erleuchtung aufzwingen muss oder die vernagelten Fakenews-Gemästeten deutlich die Hoffnungslosigkeit derer Weltsicht spüren lässt. Wenn ich mich für etwas zutiefst schäme, dann für das mich-selbst-Ertappen bei solcher Selbstwert-Onanie. Und jetzt müsste ich mir deshalb unbedingt verkneifen, hinterher zu schieben: „Aber die scheint die Einstellungs-voraussetzung für den Parteivorsitz zu sein, wenn man sich noch nie in Amt und Würden beweisen und dabei zu Kompromissen durchbeißen musste.“ Schade, wieder einmal konnte ich mir die Besserwisserei doch nicht verkneifen. Dabei würde ich Menschen wie die beiden oder sogar Höcke, Putin etc. viel lieber wirklich und im Tiefsten verstehen wollen. (Wäre dies ein Text für die Öffentlichkeit, müsste ich sofort feierlich versichern, dass ich die beiden Erstgenannten keineswegs mit den beiden Letztgenannten gleichsetze, obwohl ich das manchmal kurz vor dem Einschlafen doch tue. Dann aber eher, um irgendwann vielleicht doch noch die Quelle ihrer jeweiligen Verzerrungen zu erahnen, womöglich sogar zu verstehen!?)

Eine meist gewollte, oft gedankenlose, immer zerstörerische, ja bösartige Gleichsetzung von Verstehen mit Einverständnis verwüstet unser öffentliches Sprechen. Für diesen vermeintlichen Vorteil im politischen Meinungskampf, für diesen Machtgewinn, diesen Pyrrhussieg verzichten wir auf wirkliche Lösungsmög-lichkeiten, die nur aus echtem Gespräch entstehen können. Unsere gesamte Kultur leidet an dieser Grunderkrankung. Sie ist durch und durch kriegerisch gestimmt, sogar im scheinbar Friedlichen. „Streit gehört zur Demokratie“ führt zielsicher in Vorstufen des Krieges. Zur Demokratie gehört die gemeinsame Suche nach bestmöglichen Lösungen für ein gutes Leben aller. Und das braucht zum einen die Emotionalität, zum anderen die Bereitschaft aller, die bestmögliche Lösung zu erkennen, anzuerkennen, zu fühlen (!) und sich womöglich beim Gegenüber dafür zu bedanken, statt die Durchsetzung der zweit- oder drittschlechtesten (aber eigenen!) Lösung zu erstreiten, um dann als Sieger dazustehen.

Nun bin ich doch noch bei meiner Friedensrede gelandet.

Warum ist da so wenig Grün in meiner Erinnerungslandschaft? Nur hin und wieder ein kleiner Busch, ein kraftvoller Baum, Blumen. Das sind die Erinnerungsbilder an Begegnungen mit Menschen. Manche Pflanzen sind verdorrt und müssen erst durch andere Erinnerungen wieder ihre lebendigen Farben gewinnen: Hans mit seinen Gummistiefeln voller Kuhdung und den Fragen nach einem Shakespeare-Zitat. Ein wunderbar lebendiger Baum zwischen den vielen anderen Bildern, in denen er vorkommt. Das gehört zu den wirklichen Herausforderungen des Alters, dem Verfall der Erinnerungslandschaft, dem Verblassen der Bilder zuzuschauen – und sie nur manchmal aufhalten zu können. Dieses frische Gras der Begegnung wirklich zu erleben beim ersten Schritt darauf, bei der Begegnung jetzt, während sie gerade geschieht. Ohne Ablenkung durch das, was Annette von Droste-Hülshoff die Morgen nennt, die unsere Heute morden.

Da hilft nur eins: Gegenwart und Begegnung üben, üben, üben.

Himmel, jetzt kann ich Heloise doch einsortieren, auch ohne Wiki. Doch Rousseau! Julie oder die neue Heloise. Ich werde noch zur Trümmerfrau meines Gedächtnisses. Vielleicht braucht man ja bei erlangter reiner Gegenwart gar keines mehr? Endlich guten Gewissens der reine Tor werden, statt sich heimlich für einen unreinen Narren zu halten. Und dann mit Freude sterben können.

 

Meinem Körper

Mein lieber alter Freund

Der mich schon trug

Als meine Windeln stanken

Wie wird das sein

Wenn sie`s nun wieder tun

 

Wie werd ich`s tragen

Wenn mein Geist

Der mit dir laufen lernte

Mit dir gemeinsam

Es verlernt

 

Werd ich dich dann erdulden

Von mir werfen

Oder wirfst du mich

Noch ist die Zeit des Staunens nicht

Vorbei

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